Die Sache mit der Dankbarkeit. Sei für alles jederzeit dankbar. Das hört sich unglaublich leichtfüßig dahergesagt an. Findest Du nicht? Für alles dankbar sein? Wirklich für alles? Etwa auch dafür, dass mein Schreibtisch mit abzuarbeitenden Papierstapeln voll ist? Dass mein Partner heute total übel gelaunt ist und mir schon beim Zähneputzen doof kam? Dass ich vorhin Kaffee verschüttet habe? Ich gebe zu, das ist ein bisschen viel verlangt. Daher erzähle ich Dir heute eine Geschichte (es ist Freitag und wir haben ein bisschen Zeit, oder?). Die Geschichte der Sache mit der Dankbarkeit. Letzte Woche ist mir etwas passiert, das ich mir getrost hätte sparen können. Die Erfahrung zumindest. Nur leider hat mich niemand nach meiner Meinung gefragt. Und so nahm es seinen Lauf.
Mir ist das passiert, was sich keiner freiwillig wünscht….Es war einer dieser Tage, der im Job bis zum Rand gefüllt war. Telefonate, Meetings und die üblichen ToDos. Dazu gab es einige unvorhergesehene Dinge, die an allen Ecken hochploppten und deren Brände auf die Schnelle gelöscht werden mussten. Aber wem erzähle ich das, das sieht bei Dir nicht anders aus. Als ich dann endlich nach ein paar Überstunden im Auto auf dem Heimweg war, kam die klassische Abendfrage in mir auf: „Was essen wir heute“? Im Idealfall bekomme ich auf die Frage direkt eine Antwort aus meinem Unterbewusstsein. An diesem Tag nicht. Natürlich nicht. Lief ja eh schon alles komisch heute. Aufgrund des verlängerten Osterwochenendes war ich noch nicht einkaufen gegangen, daher wusste ich, dass mein Kühlschrank nicht die größten Gaben darbieten würde.
Daheim angekommen schnappte ich mir eines: eine Wasserflasche. Hunger hatte ich in dem Moment noch keinen. Ich bugsierte noch eine Ladung Wäsche in die Maschine und ließ mich dann – schwer wie ein nasser Sack – auf die Couch fallen. Ich beschloss abzuwarten bis mein Freund nach Hause kam, in der Hoffnung, dass er ne Idee fürs Abendessen hätte. Im Reste verwerten und bunt zusammenkochen, ist er eindeutig begabter als ich und in solchen Fällen gebe ich den Kochlöffel liebend gerne ab. Kurz danach trudelte er ein. Nichts mit Essen, er gehe erst noch in der Garage etwas aufräumen. Abendessen verschoben. Auch gut. Hunger machte sich zwar langsam breit, aber nur sehr langsam. Ich beschloss da zu bleiben wo ich war und abzuwarten, bis er wieder zurück kam. Um kurz nach acht merkte ich, dass mein Magen mich aufforderte ihn zu füttern. Die Unlust zu Kochen war noch immer da und so entschloss ich mich nur eine Kleinigkeit zu essen. Gut, dass ich von Ostern noch hartgekochte Eier da hatte. Kurzerhand lag mein Vesper angerichtet auf dem Teller und ich beschloss auf der Couch zu essen. Am Couchtisch. Ja, ich oute mich hiermit, dass ich im Anflug absoluter Faulheit den Esszimmertisch übergehe. Auf dem Weg von der Küche zur Couch ließ sich auch mein Freund wieder blicken, der ebenfalls gar keine Lust auf Kochen hatte (das wäre in dem Moment auch blöd gewesen, wo ich mich gerade fürs Vesper entschieden hatte) und verzog sich mit einem Apfel, Kopfhörern und dem iPad auf die andere Seite unseres Couch-Els. Er richtete sich bequem ein, um eine Serie auf dem Tablet anzugucken. Bequem hieß in dem Fall, mir mit dem Rücken zugekehrt. Alles kein Problem, denn nach diesem Tag war mir nicht nach großem verbalen Austausch. Doch bald sollte genau das zu einem großen Problem werden.
Nach ein paar Bissen passierte das, was sonst nur im Film passiert. Beim Schlucken blieb mir ein Stück im Hals stecken. So richtig. Ich spürte, wie es fest hing. Es ging nichts vor und nichts zurück. Und alles was dann passierte, ist wirklich mit keiner Zeitrechnung gleichzusetzen. Ob Millisekunden, Sekunden oder Minuten – ich hatte kein Zeitgefühl dafür. Ich habe sofort angefangen nach Luft zu ringen und zu husten. Ich kann Dir nur sagen: in der Situation setzt der Verstand komplett aus. Er ist schlichtweg inexistent. Ich merkte, wie mir immer mehr die Luft wegblieb. Ich konnte gerade noch den Kopf bewegen, in die Richtung, wo mein Freund saß. Er bemerkte mich nicht und hörte mich auch nicht, da die Kopfhörer auf seinen Ohren klebten. Ich war in absoluter Panik und gleichzeitig körperlicher Starre. Du musst es vermutlich erlebt haben, um zu begreifen, was ich hier zu beschreiben versuche. Ich wünsche Dir jedoch, dass Dir das niemals wiederfahren wird. Mein Freund saß nur ein kleines Stück von mir entfernt, jedoch so weit, dass ich ihn von meiner Position aus nicht berühren könnte. Ich hätte aufstehen müssen, um ihn anstupsen zu können. Dazu war mein Körper jedoch nicht in der Lage. Ich konnte meine untere Körperhälfte nicht mehr steuern. Ich fuchtelte wie wild mit meinen Armen und genau das muss er irgendwie im Augenwinkel wahrgenommen haben. Es war sofort klar, dass ich mich in einer Notsituation befand. Schließlich rang ich noch immer nach Luft. Das nächste, was ich merkte, war die Erleichterung, dass mir eine Hand auf den Rücken klopfte und ich mit meiner Hand signalisieren konnte, dass er weitermachen soll. Das „Etwas“ hing ganz schön hartnäckig in meinem Hals fest. Pflop. Es rutschte mit einem der Rückenklopfer ganz plötzlich im Hals wieder ein kleines Stück nach oben. Genau so weit, dass ich es hochhusten konnte. Weitere Details erspare ich Dir. Ich spuckte es aus und danach passierte das, was wohl völlig normal ist, wenn man sich aus einer Panik wieder befreit. Heulkrampf. Völlig fertig mit den Nerven, gleichzeitiger Erleichterung und absolutem Schock half meinem Körper nur noch das Weinen als Ausdruck der Emotionen. Und den Restinhalt des Tellers in die Tonne zu kloppen. Nichts davon wollte ich noch in meiner Nähe haben. Hätte es das gerade gewesen sein können? Was, wenn ich fünf Minuten früher begonnen hätte zu essen? Ich wäre alleine im Raum gewesen und keiner hätte mir helfen können. Ob ich mir doch irgendwie selbst hätte helfen können? Ich möchte darüber ehrlich gesagt nicht weiter nachdenken. Ich hatte jedoch das Gefühl durch die Atemnot der Erstickungsgefahr näher zu sein als mir je lieb wäre. Und heute ist nur noch eins wichtig: es ist gut ausgegangen.
Mein Unterbewusstsein war jedoch mit genau diesem Satz nicht zufrieden zu stellen. Noch den ganzen nächsten Tag bewegte mich diese Situation. Als ich morgens in meinem Bett aufwachte, war es anders als an jedem anderen Morgen. Mein allererster Gedanke war „wow, ich bin wach. Ich lebe. Ich hätte auch nicht aufwachen können“. Klar, das habe ich früher auch schon einmal gedacht, aber dieses Mal habe ich es gefühlt. Ich habe gefühlt, dass das gar nicht so selbstverständlich ist, wie ich es täglich wahrnehme. Und ich spürte eine tiefe Dankbarkeit. Und zwar so tief, dass es mich zu Tränen rührte. Ich drehte meinen Kopf nach links und blickte auf meinen Freund, der neben mir noch schlief. Mir wurde schlagartig bewusst, dass das alles jederzeit enden könnte und bitte nie enden sollten. Noch nie empfand ich so tief in mir, dass nichts selbstverständlich ist. Und dass ich tatsächlich für alles dankbar sein kann und darf. Selbst für alles, was gerade mies läuft. Denn: ich lebe. Und das könnte im nächsten Moment weg sein. Die Menschen, die ich liebe, leben mit mir. Auch das könnte sich jederzeit ändern. Und dafür bin ich nicht immer dankbar, denn es scheint selbstverständlich. Aber weißt Du was: egal, was Dich gerade tierisch annervt, was gerade so richtig schief läuft oder Dich irgendwie anderweitig einfach nur ankekst, es könnte viel schlimmer kommen. Ich weiß, das klingt so banal, aber seit dieser Erfahrung weiß ich, dass alles in einer Sekunde anders sein könnte. Viel schlimmer und schmerzhafter. Oder möglicherweise könnte ich nichts davon mehr erleben oder erfahren. Und genau das ist die Sache mit der Dankbarkeit.
puh, ich sitze hier mit Pipi in den Augen! Danke für die Geschichte. In ganz miesen Momenten fragt man sich ja wirklich „wofür soll ich jetzt denn bitteschön dankbar sein“. Einfach fürs Leben dankbar zu sein ist da schonmal ein hilfreicher Anfang.
Liebe Angelika,
ich weiß genau was Du meinst, denn ich habe mich das in richtig miesen Momenten auch schon oft gefragt. Und ich freue mich, dass ich Dir einen neuen Blickwinkel vorschlagen konnte. Danke, dass Du da bist!
Alles Liebe
sue
Liebe Sue,
konnte im Moment so sehr Anteil nehmen, dass mir selbst die Tränen laufen. Als ich sieben Jahre alt war, ist mir mal ein Bonbon im Hals stecken geblieben, weil meine Schwester und ich rumgealbert haben und ich so lachen musste und im nächsten Moment gar nicht mehr lachen konnte, nur noch rot anlaufen und nach Luft erfolglos ringen. Ich erinnere mich an die Panik, die bei meiner Schwester und dann bei meiner Mutter ausbrach, die dann auch meine Rettung war. Das alles hat sich so tief in mir vergraben, dass ich noch heute -40 Jahre später- empfinde, als hätte ich es erst vor neulich durchlebt… Als Kind empfindet man solche Situationen nicht so lebensbedrohlich. Jetzt sehe ich das anders.
Ganz großes DANKE an dich und für dich!
Herzliche Grüße
Anette
Hallo Anette,
danke, dass Du Deine Geschichte mit mir teilst! Wow, das berührt mich gerade sehr. Ich danke DIR!
Alles Liebe,
sue
Hallo Sue,
die Dankbarkeit wiegt auch bei mir ganz groß. Mit deinen Gedanken schaffst du es immer wieder, Erinnerungen in mir wach zu rufen und ihnen auch einen anderen Sinn zu verleihen.
Es gibt so vieles, was mich mit Dankbarkeit erfüllt, obgleich mein Leben ganz viele Stationen hat, die viel zu viele mit “ In deiner Haut möchte ich nicht stecken…“ kommentier(t)en.
Ein Spruch, der sicherlich Mitleid/Anteilnahme ausdrücken soll. Aber für einen selbst ganz doof klingt, denn man befindet sich ja in dieser Haut und muss es in ihr aushalten. Und oft konnte/kann ich nicht mit den meisten mithalten, dafür war/ist mein Leben zu anders.
Daher zog ich mich wie eine Schildkröte in mich zurück.
Aber inzwischen komme ich besser damit klar. UND:
„Schildkröten können dir mehr über den Weg erzählen als Hasen“ (chinesische Weisheit) 😉
Herzliche Grüße
Anette
Und noch etwas möchte ich gerne nachtragen, weil ich es soeben auf deiner Seite fand und ich so dankbar für diese so treffenden Worte bin:
„Denken und danken sind verwandte Wörter; wir danken dem Leben, in dem wir es bedenken.
– Thomas Mann“
Danke dafür Anette!
Puh, meine Liebe! Die Geschichte hat mich so sehr an meinen Autounfall im Januar erinnert: Da wusste ich auch für ein paar Sekunden nicht, ob es das mit dem Leben jetzt gewesen ist. Ganz furchtbar und der Schrecken saß richtig tief!
Aber die Erleichterung und die Dankbarkeit danach waren auch ganz schön intensiv. Deswegen halte ich an diesem Erlebnis auch weiterhin fest und schiebe es nicht einfach zur Seite. Das lässt mich bewusster und achtsamer durch den Alltag gehen.
Liebe Grüße
Julia